Richtung Norden und dann immer geradeaus - Jutta von 6GradOst
Um es gleich vorweg zu nehmen: Ich kann (fast) jedem Ort etwas abgewinnen. Ob er gleich vor der Haustür liegt oder am anderen Ende der Welt ist völlig egal. Überhaupt spielt Distanz keine Rolle und das "Wo?" wird ohnehin ständig überbewertet. Ich habe mir die Fähigkeit bewahrt, mich an ganz alltäglichen Dingen zu erfreuen. Dinge, die vielen zu banal erscheinen, weil sie keinen Platz in Reiseführern haben und schon gar nicht auf den Must-see-Listen dieser Welt stehen: Farben, Formen, Strukturen. Und die klitzekleinen Details, aus denen das große Ganze erst entsteht.
"Wenn man die Natur wahrhaft liebt, so findet man es überall schön." Vincent van Gogh
Hast du schon einmal einen Baum umarmt und dein Ohr an den Stamm gelegt? Nein, so eine, die mit Bäumen spricht, bin ich nicht. Es ist trotzdem schön, die Furchen in der Rinde eines alten Baums mit den Fingerspitzen zu erkunden und sich einzubilden, ein Rauschen von Wasser im Stamm zu hören. Und ist es nicht herrlich, auf einer Wiese zu liegen und in den Himmel zu schauen? Dabei Wolkendrachen entdecken und mit den Zehen Grashalme pflücken? Die Natur flüstert dir dann Geschichten zu. Du musst nur hinhören.
Im Norden kann man das - das Hinhören nämlich - am besten. Dort, wo die Menschen statt hektischer Aufregung unaufgeregte Fröhlichkeit an den Tag legen. Dort, wo man nicht lärmend um Aufmerksamkeit buhlt, sondern einfach man selbst ist: gelassen, entspannt.
"Die Gelassenheit ist eine anmutige Form des Selbstbewusstseins." Marie von Ebner-Eschenbach
Ich liebe die Dänen für ihr schmuckes, kleines Land, das so großartig schlichtes Design hervorbringt. Design, das eben diese Gelassenheit verkörpert. Auch die Finnen bewundere ich dafür, obschon ich nur eine Handvoll persönlich kenne und noch nie einen Fuß in ihr Land gesetzt habe. Die Schriftstellerin Tove Jansson ist nicht unschuldig an meiner "Fernliebe". Ebenso wenig wie meine Freundin Ilse, die in Turku lebt und mir immer die schönsten Bilder ihrer still-schönen Heimat schickt. Finnland und ich, wir sind füreinander gemacht. Das weiß ich jetzt schon. Schließlich habe ich auch Schweden geliebt, bevor wir uns begegnet sind. Die Lindgren hat ihren Beitrag geleistet. Nein, nicht Astrid, sondern Barbro. Barbro Lindgren-Enskogs "Schätze in Oles Koffer" fristete ein ziemlich trostloses Dasein im Regal des Bruders. Ich konnte mir das als Kind gar nicht erklären: Der Titel klang doch so verheißungsvoll!? Voller Mitleid und noch mehr Neugierde habe ich das hellblau eingebundene Buch schließlich "adoptiert" und nachts, wenn ich schon längst hätte schlafen sollen, unter der Bettdecke gelesen. Nicht einmal, sondern immer wieder. Und dann wollte ich Kind in Schweden sein.
"Sometimes it's better to look at things than own them... owning means anxiety and lots of bags to carry around." Tove Jansson
Ob Schwedens Småland mit seinen falunroten Holzhäusern, die genauso herausgeputzt aussehen wie in den Geschichten von Ole, Lotta oder Pelle, die ungeschliffene Schönheit von Norwegens Fjells und Fjorden mit ihren schlank herabstürzenden Wasserfällen oder die Natur Islands, die im Wechselspiel des unberechenbaren Wetters in überirdischen Farben leuchtet. Mit dem Norden ist es wie mit den vier Jahreszeiten: mit ihm wird es nie langweilig.
Vollends bewusst wurde mir das auf meinen jüngsten Reisen nach Island. Zum ersten Mal mit einer brauchbaren Kamera unterwegs, überwältigt von der Art und Weise, wie sich die Isländer ganz pragmatisch mit ihrer launischen Insel arrangieren, wie sie uralte Sprache, Wir-Gefühl und Nationalstolz zelebrieren und ihnen reichlich egal ist, was der Rest der Welt über sie denkt. Die Landschaft färbt auf ihre Bewohner ab. Oder umgekehrt? Das Wetter ist schlecht, doch die Landschaft ist "Ahhhh!". Der Himmel ist Grau, aber die Natur leuchtet wie van Goghs Leinwände. Wenn andere Länder mit Bauten der Superlative locken, ist Island Superlative in sich selbst. Unverbogen, ungekünstelt. Ja, genau das ist es, was mir am Norden gefällt.
"Wenn ich die Geschichte in Worten erzählen könnte, bräuchte ich keine Kamera mit mir herumzuschleppen." Lewis Hine
Beides gehört wohl zusammen. Zumindest für mich. Bilder und Worte, um Geschichten zu erzählen. Für ein größeres Publikum als nur Familie und Freunde. Dafür gibt es 6 Grad Ost.
Liebe Jutta, vielen lieben Dank für diesen wunderschönen Artikel und deine Bilder. Sie wecken wie immer ein unsagbares Fernweh in mir, diese wilde, rauhe Insel selbst einmal zu besuchen. Dein Vergleich Skandinaviens mit den vier Jahreszeiten trifft vollends zu. Wer noch mehr über Island und seine wilde Schönheit lesen möchte, sollte unbedingt auf Juttas Seite 6 Grad Ost vorbei schauen.